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Das Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1918

22. Juli 2020
Nicht nur aufgrund der schlechten Versorgungslage der Bevölkerung im Ersten Weltkrieg sind in den psychiatrischen Anstalten in Deutschland während der Kriegsjahre rund 70.000 Menschen an Hunger und Mangelernährung verstorben. Einer davon war Karl Friedrich Wilhelm Lutz, verstorben am 12.06.1915 in der Nervenheilanstalt Irrenanstalt Lichtenberg in Berlin. In seiner Patientenakte steht „isst schlecht, behauptet, daß Gift im Essen sei“. Doch wie kam es dazu? Wollte man bewusst „unnütze Esser“ loswerden?

Die allgemeine Lage vor Kriegsbeginn und in den ersten Kriegsjahren

Das Deutsche Kaiserreich trat wirtschaftlich unvorbereitet in den Krieg ein, was unter anderem darauf zurückgeführt werden kann, dass allgemein von einem kurzen, höchstens einjährigen Krieg ausging. Lediglich die Versorgung der größeren Städte mit Milch und leicht verderblichen Lebensmittel hatte man vorbereitet. Ansonsten war man davon ausgegangen, dass die privatwirtschaftliche Vorratshaltung und die heimische Nahrungsmittelerzeugung ausreichen würden, zumal renommierte Ernährungswissenschaftler berechneten, dass Deutschland 90 % seines Gesamtkalorienbedarfs selbst produzieren kann.

In Wirklichkeit kam aber insbesondere mehr als ein Viertel des notwendigen Getreides aus dem Ausland. Zudem wurde der Fleischkonsum vor allem in den Städten unterschätz, welcher aufgrund des zunehmenden Wohlstandes angestiegen war. So kam es zuerst zu einem Engpass im Futtergetreide, welchen die Bauern durch Brotgetreide auszugleichen, was wiederum im Januar 1915 zu einer ersten Rationierungsmaßnahme in Form von Brotkarten führte. Auch andere Lebensmittel wurden knapper wie beispielsweise Kartoffeln, Milch und Fett, doch die Regierung reagierte auf die Mangelsituationen immer nur reaktiv und nicht planerisch vorausschauend. Durch die Rationierungsmaßnahmen hielten Erzeuger ihre Produkte oft zurück, um sie dann auf dem Schwarzmarkt für einen deutlich höheren Betrag zu verkaufen. Die Bevölkerung litt also nicht nur unter Hunger, sondern auch unter ständigen Preissteigerungen. Dies führte dazu, dass sich eine sogenannte Ernährungshierarchie entwickelte, die wie folgt aussah:

1. Militär

2. Lebensmittelproduzenten und -händler

3. andere Produzenten

4. Begüterte mit Zugang zum Schwarzmarkt

5. gutverdienende Rüstungsarbeiter mit Schwerarbeiter-Zulage

6. Bewohner kleiner Gemeinden mit Garten oder Kontakt zu Bauern

7. Großstadtbewohner

8. Angestellte, Beamte und nichtorganisierte Arbeiter

9. Kleinrentner und Pensionäre

10. Familien von Frontsoldaten

11. alleinstehende ältere Menschen

12. Bewohner von Heimen

13. Menschen in „totalen Institutionen“

Der „Steckrübenwinter“ 1916/1917 – Die Lage verschlimmert sich

Der Herbst 1916 brachte zwar eine gute Futterernte, doch die Ernte von Getreide und Kartoffeln viel gering aus. Daher griffen die Menschen auf Steckrüben als Kartoffelersatz zurück. Eigentlich standen laut Rationierungen jedem 1.985 Kalorien zu (Anmerkung: 2.600 Kalorien sind der heutige Kalorienbedarf pro Tag bei einem Erwachsenen mit sitzender Tätigkeit), doch tatsächlich standen oft nur 1.336 Kalorien zur Verfügung, in einigen großen Städten sogar noch weniger. Bei weniger als 1.000 Kalorien pro Tag befindet man sich im Bereich massiver Unterernährung mit der Möglichkeit schwerer gesundheitlicher Schäden, die zum Hungertod führen können. Eine Folge der Rationierungen waren massive Streiks, die dazu führen, dass im Sommer 1917 der militärische Vorrang gegenüber der Zivilbevölkerung aufgehoben wurde, eine Beruhigung der Lage brachte es jedoch nicht ein, stattdessen führte es im November 1918 zur Revolution.

Die Situation in den Heil- und Pflegeanstalten

Seit Kriegsbeginn hatten die Heil- und Pflegeanstalten erheblich zu leiden, denn auch hier wurden die Nahrungsmittel rationiert, doch im Vergleich zu den „Menschen draußen“, hatten die Bewohner von Heil- und Pflegeanstalten keinen Zugang zum Schwarzmarkt und konnten sich so keine zusätzlichen Lebensmittel beschaffen. Sie mussten mit dem auskommen, was ihnen laut Rationierungsplan zustand. Menschen, die aufgrund ihrer Krankheit bisher einen strikten Diätplan einhalten mussten, konnten dies nun nicht mehr und andere, die Medikamente brauchten, erhielten diese auch nur unregelmäßig oder gar nicht. Ein weiterer einschneidender Faktor war, dass eigentlich notwendiges Pflegepersonal an die Front oder in Kriegslazarette geholt worden, sodass die Heil- und Pflegeanstalten völlig überarbeitete Pflegekräfte hatten oder auf Hilfskräfte ohne Ausbildung zurückgreifen mussten.

Alle diese Faktoren führten dazu, dass sich Krankheiten wie Ruhr und Tuberkulose in den Heil- und Pflegeanstalten ausbreiteten. Die schon kräftemäßig ausgezehrten Anstaltsinwohner gerieten in eine immer schlimmer werdende hygienische Situation. Das führte dazu, dass einige Heil- und Pflegeanstalten 1916 eine fast doppelt so hohe Sterberate hatten wie noch 1914.

Die Unterernährung führte zu einer Abmagerung der Bewohner in den Heil- und Pflegeanstalten. In Kombination mit den Vorerkrankungen und den fehlenden Medikamenten entwickelten viele Patienten Wahnvorstellungen, so auch der Patient Lutz, der glaubte, er wird vergiftet und daher die Nahrungsaufnahme verweigerte. Um 5 Uhr 30 früh am 12.06.1915 wird in seiner Patientenakte vermerkt „Exitus letalis“, also der tödliche Ausgang der Krankheit.

Deckblatt der Krankenakte von W. Lutz aus der Nervenheilanstalt Lichtenberg

Fazit

Im Ersten Weltkrieg wurden Bewohner von Heil- und Pflegeanstalten nicht bewusst und systematisch verhungert. Vielmehr war es der allgemeinen schlechten Versorgungslage in Deutschland geschuldet und der Tatsache, dass diese Menschen am Ende der Ernährungshierarchie standen. Sie hatten keine Möglichkeit ihre Situation selbst zu verbessern und die restliche Bevölkerung litt selbst zu sehr unter den Kriegsnöten, als dass sie sich um die „Irren“ hätte kümmern können.

Quelle: „Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949“ von Heinz Faulstich, Verlag: Lambertus, Ausgabe 1998, ISBN 978-3784109879


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